09.06.2023 | Linguistik

Zur Vielfalt der Sprache

Der Linguist Yaron Matras erklärt im Interview anlässlich eines Vortrags an der ÖAW politische, kulturelle und andere wichtige Aspekte von sprachlichen Realitäten.

Sprache ist Vielfalt. © AdobeStock

Der Sprachforscher Yaron Matras vom Aston Institute for Forensic Linguistics in Birmingham hielt im Mai 2023 auf Einladung der Kommission "Vanishing Languages and Cultural Heritage" der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) einen Vortrag in Wien. Im Interview spricht der Linguist über die Rolle von Vielsprachigkeit in der Politik und die Schwierigkeiten, die Konzepte wie “Muttersprache” mit sich bringen.

Motivation zum Erlernen von Sprachen

Wie viele Sprachen sprechen Sie?

Yaron Matras: Das ist nicht so leicht zu beantworten. Ich bin mehrsprachig aufgewachsen, in einem Haushalt, in dem diverse Sprachen gesprochen wurden. Später habe ich mir Kenntnisse in weiteren europäischen Sprachen angeeignet, wie Spanisch, Französisch, Niederländisch, Schwedisch und Italienisch. Darüber hinaus spreche ich Arabisch, Kurdisch, Persisch, Romanes, Türkisch und Jiddisch. 

Ist das ein angeborenes Talent?

Matras: Ich glaube nicht, dass man ein spezielles Talent braucht, um Sprachen zu erlernen. Viel wichtiger ist die persönliche Motivation. Es ist nie zu spät, um sich eine neue Sprache anzueignen.

Es gibt etwa 6.000 Sprachen, aber nur rund 200 Länder auf der Welt."

Lassen sich eng verwandte Sprachen immer klar trennen?

Matras: Es gibt zwei Arten, Sprachen zu unterscheiden. Wir können den institutionalisierten Status als Kriterium heranziehen. Schwedisch und Norwegisch sind enger verwandt als einige deutsche Dialekte, aber politische und historische Faktoren und die Assoziation mit einem bestimmten Land haben dazu geführt, dass wir von zwei verschiedenen Sprachen reden, obwohl das linguistisch nicht einfach zu rechtfertigen ist. Für Sprachforscher:innen ist die gegenseitige Verständlichkeit das wichtigste Merkmal. Hinzu kommt auch die eigene Wahrnehmung der Sprecher:innen.

Sprache als politische Größe

Wie politisch ist Sprache?

Matras: Die meisten Sprachen existieren nicht in institutionalisierter, schriftlicher Form. Es gibt etwa 6.000 Sprachen, aber nur rund 200 Länder auf der Welt. Politische Ideologie hat oft großen Einfluss darauf, welchen sozialen Status wir einer Sprache beimessen. Sprachen werden mitunter auch aus politischem Kalkül verboten, zum Beispiel Kurdisch oder Walisisch in der Vergangenheit. Aber solche Ideologien können sich zum Glück ändern. Jiddisch hat Millionen von Sprecher:innen im Holocaust verloren, aber die ultraorthodoxen jüdischen Gemeinden sprechen es und geben es weiter, es ist Teil ihrer Gemeinschaft. 

Sprache kann auch ein Werkzeug der Emanzipation sein."

Ist Sprache ein Instrument der Unterdrückung?

Matras: Das kann passieren, aber Sprache kann auch ein Werkzeug der Emanzipation sein. Meine Mutter gehörte zur ersten Generation von Hebräischsprecher:innen. Davor war es lediglich eine Zweitsprache. Die jüdische Bevölkerung in Palästina hat Hebräisch als gesprochene Sprache wiederbelebt. Es gibt immer noch nationalistische Ideologien, die Sprache in den Mittelpunkt stellen, aber die Welt wird zunehmend mehrsprachig. 

Fragliches Konzept der Muttersprache

Gibt es gesellschaftlichen Widerstand gegen diese Mehrsprachigkeit?

Matras: Meine Forschung befasst sich damit, dass Sprache oft aus einer Perspektive betrachtet wird, die Einsprachigkeit als Standard festlegt. So entstehen Begriffe dann wie “Muttersprache”. Aber was ist ein Muttersprachler? Das Konzept ist schwammig und berücksichtigt nicht, dass viele Menschen mit mehr als einer Sprache aufwachsen oder auch in Zweitsprachen einen Grad an Kompetenz erreichen können, der über dem des durchschnittlichen “Muttersprachlers” liegt. Auf gesellschaftlicher Ebene geht es vor allem darum, hybride Identitäten anzuerkennen. Das funktioniert nur über Pluralismus. Die Vielfalt sollte anerkannt werden, aber das ist ein politisch aufgeladenes Thema. Sprachen sind in vielen Fällen mit Staaten assoziiert und werden als Symbol für Loyalität und Zugehörigkeit gesehen. Menschen in vielen Ländern akzeptieren heute verschiedene Arten, sich zu kleiden oder Religionsfreiheit, aber Mehrsprachigkeit bleibt ein Streitpunkt. In Großbritannien gibt es Religionsfreiheit, aber die einzige Sprache, die gesprochen werden soll, ist nach der Auffassung mancher Englisch. In anderen europäischen Ländern ist das ähnlich. Wirklich pluralistische Gesellschaften brauchen keine dominante Sprache, sondern sollten die Vielfalt feiern. 

Die Menschen werden intoleranter gegenüber anderen Sprachen. Das ist wahrscheinlich auch eine Konsequenz aus dem Brexit."

Sehen Sie eine Entwicklung in diese Richtung?

Matras: In England beobachte ich derzeit eher einen Rückschritt. Die Menschen werden intoleranter gegenüber anderen Sprachen. Das ist wahrscheinlich auch eine Konsequenz aus dem Brexit.

Was kann die Politik tun, um Mehrsprachigkeit zu fördern?

Matras: Wir brauchen praktische Lösungsansätze. Verfassungen von Ländern müssen nicht unbedingt bevorzugte Sprachen festlegen und wir sollten vor allem aufhören, nach Sprachen zu diskriminieren. Technologie kann hier helfen, weil sie uns erlaubt,  zu kommunizieren, auch über physische Barrieren hinweg. Technologie bietet auch neue Ressourcen zum Erlernen von Sprachen. Firmen fördern ebenfalls oft Mehrsprachigkeit, weil sie international tätig sind. 

Kontext von Sprachen

Welchen Einfluss hat die Verwendung einer bestimmten Sprache auf die Wahrnehmung?

Matras: Die linguistische Debatte, ob Sprache Kultur formt oder umgekehrt, gibt es schon ewig. Sprache gibt uns die Kategorien, um unsere Realität zu beschreiben. In Türkisch ist es zum Beispiel nicht möglich zu sagen, dass man eine Schwester oder einen Bruder hat, ohne zu spezifizieren, ob die Geschwister älter oder jünger sind, weil dafür unterschiedliche Vokabeln verwendet werden. Das sind andere Kategorien zur Beschreibung derselben Realität. Deshalb ist das Übersetzen auch eine Kunstform. Sprachliche Entscheidungen beinhalten immer auch kontextuelle Konzepte. Ob ich Judäa und Samaria sage oder Westjordanland, macht einen großen Unterschied, obwohl dasselbe Gebiet gemeint ist. Wer Westjordanland sagt, ist in der Regel gegen die Besatzung.